Die strafrechtliche Aufarbeitung nationalsozialistischer Verbrechen stellt einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung der Deutschen Geschichte und für die Anerkennung der Leiden der Opfer des Holocaust dar. Auch viele Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist es nach wie vor Aufgabe der Gerichte, Aufgabe, Täter und Mitverantwortliche des NS-Regimes zur Rechenschaft zu ziehen. Die Spätverfolgung von NS-Unrecht fokussiert sich in den letzten Jahren auf Angeklagte, die aufgrund ihrer Beteiligung in Konzentrations- und Vernichtungslagern wegen Beihilfe zum Mord verurteilt wurden. Hiermit wird auch dazu beigetragen, solche Taten in der Zukunft zu verhindern.
Vertretung von Nebenklägern durch Rückel & Collegen
Oskar Gröning (Landgericht Lüneburg 2015)
- Einführung
Oskar Gröning war Mitglied der SS und wurde bekannt durch seine Tätigkeit in der sogenannten „Häftling“- Geldverwaltung im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz. So war er direkt am Mord an den Gefangenen während des Holocausts beteiligt. Es begannen im November 2013 Ermittlungen wegen seiner Handlungen.
- Anklage
Am 28. August 2014 wurde gegen ihn Anklage erhoben.
Vorwurf: Gröning wurde zum Landgericht Lüneburg wegen Verdachts des versuchten Mordes in 300.000 Fällen angeklagt.
- Urteil (Aktenzeichen 27 Ks 9/14)
Der Prozess begann am 20. April 2015, und Gröning wurde mit Urteil vom 15. Juli 2015 in allen Anklagepunkten für schuldig befunden. Er wurde zu 4 Jahren Gefängnis verurteilt. Er legte gegen das Urteil Revision ein.
- Rechtsmittel – Revision BGH (Aktenzeichen: 3 StR 49/16)
Die Revision des Angeklagten wurde am 15. Juli 2015 eingelegt und vom Bundesgerichtshof (BGH) am 20. September 2016 verworfen. Eine Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht wurde ebenfalls verworfen und der Angeklagte Gröning war somit rechtskräftig verurteilt.
- Rechtskraft
Durch die Entscheidung des BGH war das Urteil am 20. September 2016 rechtskräftig.
- Gnadenentscheidung
Gröning stellte als letzten Versuch am 15. Januar 2018 einen Antrag auf Begnadigung, um den Vollzug der Haftstrafe zu vermeiden. Die Begnadigung wurde abgelehnt. Er starb vor Verbüßung seiner Strafe am 9. März 2018.
- Inhalt des Urteils
Der Prozess gegen Gröning fand in den Medien große Beachtung. Gröning war bereits seit Jahrzehnten in der Öffentlichkeit bekannt und hatte auch öffentlich über seine Beteiligung an Auschwitz gesprochen, unter anderem 2005 in einem Interview mit dem deutschen Magazin Der Spiegel. Gröning wurde während seiner Zeit als SS- Soldat schnell auf den Holocaust aufmerksam, da ein SS-Kollege ihn schon an seinem zweiten Tag in Auschwitz darüber informierte, dass dort Juden vergast werden. Seine Hauptaufgabe in Auschwitz bestand darin, Geld und Gegenstände der ermordeten Gefangenen zu verarbeiten. Er selbst brachte routinemäßig das Geld der Gefangenen nach Berlin.
Im Mittelpunkt des Prozesses stand jedoch seine Beteiligung an der “Ungarn-Aktion”, bei der es im Frühsommer 1944 um den massenhaften Völkermord an der Mehrheit von ca. 400.000 ungarischen Juden in nur ca. 3 Monaten ging. Während dieser Operation arbeitete Gröning im Sommer 1944 dreimal, ohne dass Gröning ein genaues Datum nennen konnte, an der “Rampe” im Ankunftsbereich von Auschwitz-Birkenau.
Als bewaffneter Wachmann gab er vor, das Gepäck der Gefangenen zu bewachen, um deren spätere Rückkehr vorzutäuschen und so die Gefangenen über ihre bevorstehende Ermordung zu täuschen. Nach seiner eigenen Aussage war er Zeuge, wie ein SS-Wachmann ein Kind, das auf einem der Transporte zurückgelassen worden war, nahm und den Schädel des Säuglings brutal gegen die Seite eines Lastwagens schlug, bis es tot war.
Sein Antrag auf Entlassung aus dem Dienst wurde daraufhin abgelehnt. Später berichtete er von einer Suche nach entkommenen Gefangenen, die nach dem Arbeitseinsatz im Wald zurückgeblieben waren. Er beobachtete auch, wie ein SS-Angehöriger eine Gasmaske aufsetzte und dann den Inhalt eines Kanisters durch das Dach eines Gebäudes (Gaskammer) schüttete. Er berichtet weiter, dass er unmittelbar danach Schreie hörte, was bedeutet, dass er Zeuge einer Vergasung geworden war.
Trotz seines Wissens um den Massenmord in Ausschwitz setzte er seine Tätigkeit fort, bis er 1944 eine Versetzung an die Westfront beantragte, um den vorrückenden Truppen der Roten Armee zu entgehen. Im Oktober 1944 wurde er an die Front versetzt, wo er kämpfte, verwundet und nach der Ardennenschlacht gefangen genommen wurde. Er wurde 1948 aus britischer Kriegsgefangenschaft entlassen und kehrte nach Nienburg/Weser zurück.
Reinhold Hanning (Landgericht Detmold 2015)
- Einführung
Reinhold Hanning war ein Angehöriger der Waffen-SS und Angehöriger des Totenkopf-Bataillons, das im Vernichtungslager Auschwitz eingesetzt war.
- Anklage
Hanning wurde am 10. Februar 2015 von der Staatsanwaltschaft zum Landgericht Detmold angeklagt. Ihm wurde Beihilfe zum Mord in 170.000 Fällen vorgeworfen.
- Urteil (Aktenzeichen 4 Ks 45 Js 3/13 – 9/15)
Nach einem Prozess wurde er am 17. Juni 2016 in allen Anklagepunkten für schuldig befunden und zu fünf Jahren Haft verurteilt.
- Revision – Revision zum Bundesgerichtshof (Aktenzeichen 4 StR 51/17)
Hanning hatte Revision zum Bundesgerichtshof eingelegt. Hanning verstarb am 30. Mai 2017, so dass die Revision am 28. April 2018 verworfen wurde. In der Kostenentscheidung des Gerichts heißt es jedoch: “Die Verurteilung wegen Beihilfe zum Mord hätte einer Überprüfung in der Berufung standgehalten.” Das bedeutet, dass das Urteil in jedem Fall aufrechterhalten worden wäre.
- Nicht rechtskräftiges Urteil
Das Urteil vom 17. Juni 2016 bleibt zwar bestehen, ist aber nicht rechtskräftig, da Hanning verstorben ist und der Bundesgerichtshof in der Hauptsache daher nicht mehr tätig werden konnte. Hanning hat nie eine Haftstrafe verbüßt.
- Inhalt der Aussage des Angeklagten nach dem Urteil
Nach eigener Aussage war Hanning entschlossen, in die SS einzutreten. Nachdem er eine schwere Verletzung erlitten hatte, kam er am 23. Januar 1942 zum Einsatz nach Auschwitz. Hanning arbeitete regelmäßig als Wachmann, auf den Innen- und Außenposten, in den Wachtürmen und vor allem in den Absperrungen bei der Ankunft der Gefangenentransporte. Während seines Dienstes wurde er sich des wahren Charakters von Auschwitz und seiner Funktion als Vernichtungslager unwiderlegbar bewusst.
Bei seiner Tätigkeit sah er ständig offene Karren, auf denen Leichen transportiert wurden und Schlangen ausgemergelter und geschwächter Gefangener. Auch die Hinrichtungen an der “schwarzen Wand” konnte er von seinem Schreibtisch aus deutlich hören. Als Wachmann verhinderte er Ausbrüche, da er bewaffnet war und den Befehl hatte, bei jedem Fluchtversuch zu schießen. Seine Einheit beaufsichtigte auch Arbeitstrupps, die Zwangsarbeit verrichteten. In seiner Aussage plädierte Hanning auf Scham und Schuldgefühle für seine Taten und betonte sein Bedauern und dass er seinen Dienst vor seiner Frau und Familie geheimhielt.
Johann Rehbogen (Landgericht Münster)
- Einführung
Dr. Rehbogen wurde 1942 für die SS rekrutiert und kam noch im selben Jahr nach Stutthof.
- Anklage, Aktenzeichen 10KLs-45 Js 2/16-13/17
Am 6. November 2017 wurde Rehbogen von der Staatsanwaltschaft zum Landgericht Münster wegen versuchten Mordes und Beihilfe zum versuchten Mord in mehreren hundert Fällen angeklagt. Das Verfahren gegen ihn wurde am 6. November 2018 eröffnet.
- Ergebnis
Am 27. November 2018 erschien der Angeklagte nicht mehr vor Gericht, da sein Anwalt eine Krankschreibung wegen Reiseunfähigkeit aufgrund fortgeschrittenen Alters und Gebrechlichkeit vorgelegt hatte. Zu einem Urteil kam es im Fall Rehbogen nicht, da er vom Landgericht Münster am 29. März 2019 für verhandlungsunfähig erklärt wurde.
- Rechtsmittel
Die Verteidigung legte am 22. Januar 2020 beim Oberlandesgericht (OLG) Hamm Beschwerde gegen eine Kostenentscheidung ein. Sie wurde vom OLG am 31. März 2020 zurückgewiesen.
- Rechtskraft
Es kam nie zu einem rechtskräftigen Urteil, da das Verfahren eingestellt wurde, weil Rehbogen nicht mehr verhandlungsfähig war.
- Inhalt des Beschlusses und der Aussage
Während des Zweiten Weltkriegs wurde Rehbogen als “Volksdeutscher” identifiziert (eine Person deutscher Abstammung, die außerhalb der damaligen Grenzen des Deutschen Reiches lebte). Dies führte zu seiner späteren Rekrutierung und Einschreibung bei der SS in Stutthof, wo Dr. Rehbogen als SS-Wachmann für die äußere und innere Umgrenzung eingesetzt wurde.
In seiner Aussage behauptete er, die wahre Natur von Stutthof erst viel später erkannt zu haben. Er behauptete, er habe keine Massenexekutionen, Vergasungen oder Leichentransporte im Lager miterlebt. Er bemerkte das beunruhigend schlechte Aussehen der Gefangenen, gab aber keinen Hinweis darauf, dass er wusste, dass Stutthof als Todeslager fungierte. Dr. Rehbogen berichtete von dem schrecklichen Geruch, der ständig von den Krematorien ausging, stellte aber offenbar keinen Zusammenhang zwischen deren ständiger Nutzung und der Ermordung von Gefangenen her.
Bruno Dey (Landgericht Hamburg 2019/ 2020)
- Einführung
Dey war von Juni / Juli 1944 bis zum 26. April 1945 SS-Wachmann in Stutthof. Nach dem Krieg wurde er kurzzeitig von den Amerikanern inhaftiert.
- Anklage
Am 4. August 2019 wurde er von der Staatsanwaltschaft Hamburg vor dem Landgericht Hamburg angeklagt. Der Prozess gegen ihn begann am 17. Oktober 2019.
Vorwurf: Dey wurde wegen 5.230 Fällen von versuchtem Mord und Beihilfe zum versuchten Mord angeklagt.
- Urteil (Aktenzeichen 617 Ks 10/19 Jg.)
Am 10. August 2020 wurde Dey vom Landgericht Hamburg in 5.232 Fällen der Beihilfe zum Mord und des versuchten Mordes für schuldig befunden und zu einer zweijährigen Bewährungsstrafe verurteilt.
- Rechtskraft
Das Urteil wurde am 10. August 2020 rechtskräftig, da die Staatsanwaltschaft und der Angeklagte das Urteil akzeptiert haben.
- Inhalt des Urteils
Ursprünglich zur Wehrmacht eingezogen, wurde Dey als kampfuntauglich, aber als tauglich für die “Heimatfront” eingestuft. Dey wurde im Juni oder Juli 1944 als Wehrmachtsangehöriger zum Wachdienst nach Stutthof versetzt. Nach einem kurzen Krankenhausaufenthalt in Danzig aufgrund einer Infektion wurde er im August 1944 nach Stutthof zurückverlegt.
Nach seiner Rückkehr wurde er in die 1. Kompanie des SS-Totenkopfsturmbanns versetzt, eine Einheit, die Wachdienst leistete. Am 31. August 1944 wurde das 2. SS-Wachbataillon (bestehend aus Wehrmachtssoldaten) aufgelöst und in die SS eingegliedert, wodurch die Zugehörigkeit zur SS offiziell besiegelt wurde.
Dey war in Stutthof hauptsächlich als Wachmann in Zwölf-Stunden-Schichten eingesetzt, davon zwei Stunden in Alarmbereitschaft und zwei in Bereitschaft. Während dieser Zeit war er vorbereitet, ausgebildet und bereit, jeden Gefangenen zu erschießen, der versuchte, aus den erbärmlichen Bedingungen, unter denen sie gehalten wurden, zu fliehen. Er war Zeuge der unmenschlichen und lebensbedrohlichen Bedingungen, unter denen die Gefangenen gehalten wurden, und wusste, dass die Gefangenen in Stutthof vergast wurden.
Irmgard Furchner (Landgericht Itzehoe 2021/ 2022)
- Einführung
Irmgard Furchner war als Zivilsekretärin in leitender Funktion (eine Schlüsselfunktion als Stenotypistin) dem Kommandanten Hoppe des Konzentrationslagers Stutthof als Mitglied des Haupt- und Leitungskreises zugeordnet. Sie war vom 1. Juni 1943 bis zum 1. April 1945 im Lager beschäftigt und floh dann vor den anrückenden Russen nach Westen.
- Anklage
Furchner wurde am 26. Januar 2021 zum Landgericht Itzehoe angeklagt. Ihr Prozess sollte Ende September 2021 beginnen, verzögerte sich jedoch aufgrund eines gescheiterten Fluchtversuchs, der zum Erlass eines Haftbefehls führte. Ihr Prozess begann schließlich am 19. Oktober 2021.
Vorwurf: 11.430 Fälle von Beihilfe zum Mord und Beihilfe zum versuchten Mord.
- Urteil (Aktenzeichen 315 Js 15865/16 HW)
Am 20. Dezember 2022, wurde sie vom Landgericht Itzehoe in 10.505 Fällen der Beihilfe zum Mord und in fünf Fällen der Beihilfe zum versuchten Mord für schuldig befunden. Furchner wurde weder im Zusammenhang mit der “Probevergasung” sowjetischer Kriegsgefangener im Sommer 1944 noch wegen der Hinrichtungen mit der sogenannten „Genickschussanlage” für schuldig befunden. In beiden Fällen reichten die Beweise nicht aus, festzustellen, ob sie Kenntnis von diesen Vorgängen hatte. Sie wurde zu einer zweijährigen Haftstrafe verurteilt, die zur Bewährung ausgesetzt wurde.
- Rechtsmittel Revision BGH (Aktenzeichen: 5 StR 326/23)
Nach dem Urteil des Landgericht Itzehoe legte Furchner über ihren Anwalt Revision ein. Die Revision wurde am 31. Juli 2024 vor dem Bundesgerichtshof in Leipzig (5. Strafsenat) verhandelt. Eine Entscheidung erging am 20. August 2024.
Das Urteil des BGH (5 StR 326/23) vom 20. August 2024 lautet: Die Revision der Angeklagten wurde verworfen, damit ist seit diesem Tag das Urteil des LG Itzehoe rechtskräftig.
- Rechtskraft
Nach der Revision ist das Urteil nun rechtskräftig seit 20. August 2024.
- Inhalt des Urteils
Furchner wurde wegen Beihilfe zum Mord und Beihilfe zum versuchten Mord verurteilt, weil sie von Juni 1943 bis April 1945 als Sekretärin im KZ Stutthof tätig war. Als Sekretärin schrieb Furchner diktierte Befehle des Kommandanten Hoppe und machte stenografische Notizen. Anschließend tippte sie diese Befehle ordnungsgemäß ab und gab sie zur Unterschrift und zum Versand zurück.
Darunter befanden sich auch Bestellungen für Zyklon-B, ein Pestizid auf Zyanid-Basis, das von den Nazis zum Massenmord in Gaskammern (und auch in Stutthof) eingesetzt wurde. Furchner schrieb und lieferte die getippten Befehle für diese Bestellungen zur Unterzeichnung durch Hoppe ab und schrieb auch seine Diktate. Diese betrafen Gefangenentransporte nach Auschwitz (wo sie dem Schicksal der sofortigen Vergasung ausgesetzt waren).
Furchner kannte zweifellos die heimtückische und kriminelle Natur dieser Befehle, da sie diese nicht nur gehört, sondern auch selbst geschrieben und getippt hatte, ohne dass sie dagegen protestiert hätte. Daher gehörte der Umgang mit Befehlen zum Mord zu Furchners täglicher Arbeit. Sie war sich auch der schrecklichen und lebensbedrohlichen Bedingungen bewusst, unter denen die Gefangenen gehalten wurden, da ihnen ausreichende Ernährung, grundlegende Hygiene und angemessene Unterkünfte verweigert wurden.
Im Lager herrschte außerdem ein ständiger Gestank von verbranntem Menschenfleisch, der aus dem Krematorium und später von den Scheiterhaufen unter freiem Himmel ausging. Die Lebensbedingungen in den Baracken verschlechterten sich so sehr, dass im Winter 1944/45 die Gaskammer in Stutthof wegen des Massensterbens eine Zeit lang nicht benutzt wurde. Furchner war sich dieser gefährlichen Zustände, die Überlebende aus erster Hand bezeugten, durchaus bewusst. Aus der Inspektion des Tatortes (KL Stutthof) und aus Sachverständigenaussagen geht hervor, dass ihr Büro einen freien Blick auf den zentralen Platz hatte, auf dem die Gefangenen festgehalten wurden. Diese waren insgesamt den Elementen ausgesetzt, bevor sie entweder vergast oder nach Auschwitz geschickt wurden.